Diesen Satz haben Sie bestimmt schon oft gehört und gesagt - zum Spaß, weil jemand nicht richtig hingesehen hat. Aber das hier wird kein lustiger Blogartikel. Hier geht es um etwas Ernstes: Analphabetismus.
Der Satz in der Überschrift drückt eine bittere Wahrheit aus: Analphabetismus schränkt zahlreiche Menschen extrem ein. 6,2 Millionen Deutsche können nicht fließend lesen und schreiben. Simple Auskünfte auf Wegweisern, Straßenschildern und Informationstafeln bedeuten für sie pure Verzweiflung. Ganz zu schweigen von längeren zusammenhängenden Texten in Amtsschreiben, WhatsApp-Chats oder Büchern.
Mir war die Ausweglosigkeit dieser Situation überhaupt nicht bewusst, bis ich die vierteilige Dokumentation Buchstäblich leben! - ZDFmediathek gesehen habe. Acht bewundernswerte Menschen mit ganz unterschiedlichen Geschichten und Gründen für ihre Lese- und Rechtschreibschwäche werden vier Monate lang begleitet und intensiv unterrichtet. Es ist sehr berührend, zu sehen, wie diese nicht nur immer besser lesen und schreiben, sondern auch emotional wachsen und deutlich selbstbewusster werden.
"Ick lebe noch. Ick fang jetzt erst richtig an."
Diese Aussage von Tina, 59, aus Berlin treibt mir die Tränen in die Augen - noch jetzt, wenn ich daran denke. Unsere Kommunikation läuft zu einem wesentlichen Teil über verschriftlichte Sprache, und deshalb bedeutet Lesen und Schreiben Teilhabe an der Gesellschaft und am Leben. Tina hat so recht.
Wie konnte mir das so überhaupt nicht klar sein? Lesen und Schreiben ist mein Beruf; ich bin wahrscheinlich noch geübter darin als die meisten. Teilweise lese ich unbewusst, weil ich ein Wort einfach im Bruchteil einer Sekunde erfasse und verstehe. Lesen ist für mich Normalität. Ich träume Buchstaben, ich sehe Buchstaben vor mir, wenn ich Wörter im Kopf habe. Dass Lesen und Schreiben für einen signifikanten Teil der Weltbevölkerung fast unerreichbare Fähigkeiten sind, ist mir erst jetzt durch die Dokumentation aufgegangen.
Besonders nachdenklich gemacht hat mich die Erzählung einer Teilnehmerin von "Buchstäblich leben": Sie beschreibt, wie sie mal wieder orientierungslos ist. Sie muss etwas erledigen, kommt aber aufgrund ihrer Leseschwäche nicht zurecht. Irgendwann überwindet sie sich doch, schiebt ihre Schamgefühle beiseite und fragt mutig nach. Sie bekommt zwar eine Antwort, aber auch zu hören: "Hä, steht doch da! Lies einfach!"
Bestürzend. Ich bin sehr dankbar, die Doku Buchstäblich leben! - ZDFmediathek gesehen zu haben und so etwas nie wieder zu denken oder gar zu sagen. Diese acht Menschen haben sich gezeigt und damit mir und anderen was Analphabetismus angeht die Augen geöffnet. Hoffentlich sehen noch viel mehr Leute die Dokumentation.
Mir aus dem Herzen gesprochen! In meinem Alter (fast 72) fällt einem die "Schreib"-losigkeit junger Leute (ich arbeite noch einen Tag der Woche in einer Berufsfachschule als Lehrer für Deutsch und Kommunikation) besonders schmerzhaft auf... Ich freue mich auf weitere Beiträge!
Germanistischen Gruß, Ingmar ten Venne