Wenn bei mir das Handy klingelt ...
- veronikaweisstexte

- 16. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Juli
... kann das Gespräch auf zwei Arten beginnen. Weil mein Gehirn zwei Arbeitsmodi kennt: konvergentes und divergentes Denken.
Je älter ich werde, desto besser lerne ich mich und mein Gehirn kennen. Mir ist klar geworden, dass ich mit zwei Denk-Arten durchs Leben gehe. Ich möchte das gern an einem Beispiel schildern.
Nehmen wir an, Sie arbeiten mit mir zusammen - und vielleicht tun Sie das ja schon, dann kommt Ihnen das Folgende eventuell sogar bekannt vor.
Also: Wir haben bereits über Ihr Manuskript gesprochen, das demnächst für mein Lektorat bereit ist. Sie wissen, dass ich mich auf die Arbeit daran freue und für Sie jederzeit erreichbar bin. Da Sie mich über eine Neuigkeit informieren möchten, beschließen Sie, mich anzurufen.
Ich hebe ab, und Sie hören
langsam gesprochen:
"Weiss, hallo?"
[Ihre Antwort.]
"Ja, hallo, genau ... Eine Sekunde bitte ... Ich bin gleich ganz bei Ihnen. Ich muss nur noch eben ..."
schnell gesprochen:
"Veronika Weiss hier, hallo, Herr/Frau Soundso, schön, dass Sie sich melden."
[Ihre Antwort.]
"Genau, ich freu mich schon, mehr zu hören - wie läuft es mit dem Schreiben?"
Beide Varianten können eintreten! Man könnte meinen, ich sei schizophren ... Irgendwie zeigen sich hier ja auch zwei Seiten meiner Persönlichkeit:
1. das Introvertierte, Stille, Strukturierte, Konzentrierte - zu der Zeit des Tages, in der mein Kopf konvergent arbeitet und sich immer nur auf eine Sache konzentriert.
2. das Extrovertierte, Lautere, Kreative - zu der Zeit des Tages, in der mein Gehirn divergent arbeitet und ich problemlos mehrere Bälle in der Luft halten kann.
In Szenario 1 haben Sie mich angerufen, während ich tief in einen Text versunken war. Vielleicht befinde ich mich in diesem Moment gedanklich
auf einer kleinen Nordseeinsel, wo ich das nächste Mordopfer sein könnte ...
als einzige Handwerkerin auf einer Baustelle ...
im Chicago der 30er-Jahre, neben mir ein fluchendes Meerschweinchen ...
als kleines Kind im nigerianischen Busch oder
mit einem Abakus im Japan eines längst vergangenen Jahrhunderts.
(Das sind echte Lektorats-Beispiele - die jeweiligen Bücher sind verlinkt!)

Beim Lektorieren muss mein Gehirn konvergent arbeiten, also linear. Es liegt mir, mich auf eine Sache zu konzentrieren, einzutauchen in einen Text, und einen Satz nach dem anderen zu durchdringen. Mein Handy ist nur für Anrufe laut gestellt, alle Ablenkungen sind ausgeschaltet. Ich arbeite in Slots von 55 Minuten
Bildschirmzeit, zwischen denen es kurze Pausen gibt. Damit schaffe ich viel und fühle mich produktiv - nicht umsonst habe ich einen Job gewählt, der auf genau diese Fähigkeiten setzt.
Aber das funktioniert nicht durchgehend. Es gibt Tage - und Tageszeiten -, da klappt es nicht so gut mit dem konvergenten Denken. Letztens zum Beispiel saß ich in einem Coworking-Space, wo Musik lief (sonst nicht mein Stil) und hatte einen köstlichen großen Kaffee intus, also viel Koffein im Blut ... Außerdem kamen dauernd schöne Nachrichten zu einem ganz anderen (musikalischen) Thema rein, die zu lesen ich mir gern erlauben wollte.

Solche Umstände sind auch nicht schlecht, denn da passiert dann bei mir das sogenannte divergente oder laterale Denken: Dabei entstehen ganz agil Ideen, werden auf kreative Art mehrere Seiten eines Themas, unterschiedliche Perspektiven und Lösungsansätze bedacht. Hier gerät man gar nicht in die Gefahr, in einer Sackgasse steckenzubleiben. Man ist fähig, an mehreren Fronten parallel zu arbeiten. Meine To-dos für diese Phasen sind: Mails schreiben, mich um Social Media kümmern, Kolumnen und Blogbeiträge verfassen. Oder spontan Telefonate entgegennehmen - ganz aufgeräumt, dann klingt das wie in Szenario 2.
Die meisten Menschen haben eine klare Tendenz zur einen oder anderen Denkart. Das ist abhängig vom Persönlichkeitstyp und lässt sich durch Tests oder durch Selbstbeobachtung herausfinden. Aber das Praktische ist: Wir alle haben beide Anteile in uns und können sie nach Bedarf nutzen.
Ich versuche, fast immer nach meinen divergenten (lateralen) und konvergenten (linearen) Phasen zu arbeiten - und bitte verzeihen Sie mir, wenn Sie mich ganz spontan in letzterer erwischen und ich mich im ersten Moment noch da herausziehen muss ...




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